Barrierefreie Dreharbeiten

Shownotes

Wie ist das eigentlich so, wenn man mit sehbehinderten Protagonist:innen eine Fernsehsendung dreht? Genau darum geht's in der ersten Folge. Host Yves Kilchör hat Sara Leuthold, Co-Produzentin und -Autorin der «DOK»-Serie «Blindflug» von SRF – in der er imfall selber auch Protagonist war – ins Studio eingeladen. Und wie es sich für einen Podcast mit dem Namen «Stereotyp» so gehört, haben die beiden keine Skrupel davor, über Aspekte und Vorbehalte zu reden, die man sonst nicht so direkt anspricht.

«Stereotyp» ist ein Podcast von SRG Insider mit Unterstützung der Stiftung Denk an mich.

Transkript anzeigen

00:00:00: Wollen wir mal zusammen zurück schauen?

00:00:02: «Oben hat es keine Angabe, es heisst einfach *griechischer Strassenname* nach Westen,

00:00:07: aber es hat keine Angabe, in wie vielen Metern.»

00:00:10: «Huere Siech, was ist das?»

00:00:14: Du hast uns einfach in Sachen reinlaufen lassen.

00:00:16: Also ich habe euch einfach das machen lassen, das ihr ja sonst auch macht, oder?

00:00:23: «Stereotyp» – der Podcast von SRG Insider mit Yves Kilchör.

00:00:27: Dabei geht’s um «Öpis mit Medie» und Denkmuster, über die wir reden müssen.

00:00:32: Vor drei Jahren bin ich noch mit Jonas in Athen umhergeirrt für «Blindflug».

00:00:37: Und jetzt sitze ich im Studio von SRG Insider.

00:00:40: Ich bin Yves Kilchör. Ich bin sehbehindert. Ich sehe zwei Prozent.

00:00:44: Das heisst: Was du auf eine Distanz von 100 Meter siehst, sehe ich auf zwei Meter.

00:00:50: Stereotypen, Denkmuster in den Medien, über welche man reden muss,

00:00:54: die kenne ich allzu gut. Von meiner eigenen Erfahrung als Radiomacher

00:00:58: und natürlich auch als Medienkonsument.

00:01:01: Dieser Podcast, welchen du dir anschauen oder anhören kannst,

00:01:04: den mache ich zwar nicht mit Jonas, aber mit einer anderen wichtigen Reisebegleiterin von mir,

00:01:09: nämlich mit Sara Leuthold. Schön bist du da!

00:01:12: Ja, das finde ich auch. Schön dich wieder mal zu sehen.

00:01:14: Du warst mit uns auf diesen Reisen dabei. Du hast uns begleitet.

00:01:21: Du hast diese Sendungen produziert.

00:01:24: Gerne würde ich mir dir darüber reden, wie du diese Sendungen entwickelt hast.

00:01:27: Ich habe etwas gefunden in meinem Archiv: ich zeige es dir auf meinem Handy.

00:01:33: Schau mal hier. Kennst du das? Sagt dir das etwas?

00:01:37: Warte, ich muss scrollen. Ist es die E-Mail, welche du an den damaligen Generaldirektor geschickt hast?

00:01:45: Genau, an Roger de Weck. Der wunderbare schöne Betreff war «Mehr Diversity bei SRF».

00:01:52: Ob man eine Reisesendung machen möchte, bei der man zeigt, wie wir reisen.

00:01:56: Jonas ist ganz blind und ich bin sehbehindert.

00:02:00: Die E-Mail hat ein paar Umwege genommen und ist zu dir gekommen.

00:02:04: Kannst du dich noch erinnern, wie du reagiert hast, als du die Mail gesehen hast?

00:02:08: Ich weiss noch, dass ich gerade dabei war ein neues Projekt anzufangen

00:02:17: und es ist nicht vorangegangen. Es war alles kompliziert.

00:02:20: Und dann habe ich diesen Zettel, diesen Brief, den du an Herrn de Weck geschrieben hast,

00:02:25: irgendwo auf einem Pult gefunden. Und dann dachte ich:

00:02:29: «Hey, das wäre cool! Eine Fernsehsendung mit Menschen, die nicht gut oder gar nicht sehen können,

00:02:36: finde ich eine sehr spannende Ausgangslage.»

00:02:39: Dann habe ich mich lautstark in der Redaktion gemeldet und gesagt:

00:02:43: «Das würde mich interessieren. Hallo, hallo – das würde mich interessieren.»

00:02:46: Und dann irgendwann haben sie gefunden: «Okay ist gut. Triff doch die beiden mal.»

00:02:51: Hat es dich wirklich interessiert oder waren wir Mittel zum Zweck,

00:02:55: damit du die anderen Probleme los wirst?

00:02:57: Nein, nein, es war mehr so, dass ich gemerkt habe, das würde mich wirklich interessieren.

00:03:02: Eigentlich würde ich lieber so etwas machen als das andere Projekt,

00:03:07: welches immer wieder feststeckte. Es hatte nichts damit zu tun,

00:03:14: dass ich gedacht hätte, das wäre meine «Rettung».

00:03:19: Du bist eine langjährige Medienmacherin, du hast unzählige Fernsehsendungen mitentwickelt und umgesetzt:

00:03:24: Du bist für «Fernweh» gereist, hast mit Mona Vetsch «Wahlfahrt» umgesetzt

00:03:30: und später die «Karma Challenge» und viele weitere Projekte.

00:03:35: Warum hast du ausgerechnet dieses Projekt angepackt?

00:03:38: Roger de Weck schreibt in seiner Mail: «Es gibt meist viele gute Ideen aber nur wenige Sendeplätze.»

00:03:44: Was ist jetzt genau deine Frage? Warum ich dies machen wollte?

00:03:49: Warum hast du dieser Idee eine Chance gegeben als Medienmacherin?

00:03:50: Es ist interessant ein visuelles Produkt mit Menschen zu machen, die nichts oder fast nichts sehen.

00:03:59: Ich habe mich gefragt, wie sich das zusammenfügen könnte,

00:04:03: ob das überhaupt gehen würde und ob das interessant wäre –

00:04:07: für die Sehenden wie auch für die nicht Sehenden.

00:04:10: Dieser Kontrast hat mich interessiert.

00:04:14: Ich erinnere mich daran, dass du mich angerufen hast

00:04:17: und ich ziemlich unfreundlich zu dir war. Ich war den ersten Tag nach den Ferien

00:04:23: zurück bei der Arbeit und dann ruft da jemand an.

00:04:25: Ich habe mich nicht getraut von der Arbeit wegzugehen

00:04:27: und mit jemandem privat zu telefonieren.

00:04:29: Da sagtest du: «Komm, wir treffen uns mal.»

00:04:31: Wir haben uns also verabredet und uns mit dir und deiner Kollegin oder

00:04:36: Chefin im Bahnhof Bern beim Treffpunkt getroffen.

00:04:42: Wir waren sehr gespannt, was da jetzt passieren würde.

00:04:45: Wie ging es dir im Vorfeld dieses Treffens?

00:04:48: Wir waren auch gespannt und ich war ehrlich gesagt auch ein bisschen nervös.

00:04:52: Ich kenne niemanden persönlich, der schlecht oder gar nicht sieht

00:04:57: und ich fragte mich, was ich sagen darf. Darf ich sagen, dass es vielleicht schwierig wird,

00:05:04: mit euch eine Fernsehsendung zu machen? Oder ist das schon diskriminierend?

00:05:08: Ich war etwas unsicher und fragte mich auch: Wie gehen wir vom Treffpunkt dann zum Restaurant?

00:05:17: Ich wusste sehr viele Dinge einfach nicht.

00:05:19: Spannend war auch: wir tauschten uns im Schweizerhof aus, das ist das Edelrestaurant und Hotel in Bern.

00:05:24: Neben uns war eine Gruppe Japaner und wir haben uns beinahe nicht verstanden …

00:05:28: Wir wollten zuerst woanders hin. Die hatten aber geschlossen also dachten wir,

00:05:33: im Schweizerhof wäre es sicher ruhig. Das war dann nicht so. Schlussendlich matchentscheidend war,

00:05:42: dass wir euch trafen. Ich dachte schon auch – kommt das gut mit den beiden, geht das?

00:05:50: Wieso?

00:05:52: Es war klar, dass es einen Probedreh brauchen würde, um zu sehen,

00:05:56: wie ihr miteinander funktioniert. Jonas war am Treffen sehr still, du hast sehr viel gesprochen

00:06:02: und da war ich mir nicht sicher, ob das passt. Caro, meine Kollegin,

00:06:08: war sich schnell sicher und schlug vor, einen Probedreh zu machen.

00:06:10: Der Probedreh fand dann in Yverdon-les-Bains statt …

00:06:14: Bei diesem Dreh zeigten sich dann die Herausforderungen. Ihr habt in eurem Brief an den damaligen Generaldirektoren

00:06:23: ja geschrieben, dass es manchmal schwierig ist beim Reisen und dass ihr euch auch mal verirrt.

00:06:27: Ich dachte mir: «Ja, das wird schon gehen.»

00:06:30: Beim Probedreh war es dann wirklich so. Es hat geregnet, was dazu führte,

00:06:34: dass für euch die Orientierung schwieriger wurde, weil es aufgrund des Regens sehr laut ist

00:06:40: und ihr nicht mehr genau ausmachen könnt, wo die Strassen sind.

00:06:44: Wenn die Autos im Regen fahren, ist das Rauschen ein anderes …

00:06:47: Ihr seid dann etwa zwei Stunden effektiv im Kreis gelaufen und ich fragte mich,

00:07:00: ob ich jetzt eingreifen soll oder nicht. Als wir dann nach zwei Stunden alle durchnässt waren,

00:07:08: habe ich dann vorgeschlagen, dass wir mal zum Mittagessen gehen.

00:07:11: Spannend war auch, dass du ja nicht gehört hast, was wir diskutieren,

00:07:14: nur die Kamerafrau konnte unserem Gespräch folgen.

00:07:16: Genau – am Anfang mussten wir zuerst herausfinden, wie das produktionstechnisch am besten geht.

00:07:22: Die Erkenntnis war, dass ich als Produzentin hören muss, was ihr miteinander sprecht.

00:07:27: Als Sehende war dies am Ende das Spannende: zu erfahren, wie ihr die Situationen wahrnehmt

00:07:34: auf welche Probleme ihr stösst, welche Überlegungen ihr anstellt.

00:07:38: Das wurde am Ende auch in die Sendung eingebaut mit diesen abgesetzten Interviews.

00:07:46: Es gab dann auch noch einen Probedreh in Genf. Diese beiden Drehs brauchte es,

00:07:51: um herauszufinden, ob die Umsetzung überhaupt möglich ist.

00:07:53: Ein grosses Thema war auch die Distanz der Kamera zu uns Protagonisten,

00:07:59: weil wir ja Passant:innen auch ansprechen müssen, wie wir das auf unseren Reisen immer machen,

00:08:03: wenn wir Hilfe brauchen. Was habt ihr aus den Probedrehs sonst noch gelernt?

00:08:09: Mir wurde klar, dass es sehr viel Zeit braucht, um authentisch zu zeigen,

00:08:17: wie es wirklich ist, wenn ihr reist. Vielleicht kommt man nicht ans Ziel,

00:08:22: das man sich gesetzt hat, sondern an ein anderes.

00:08:24: Der Weg ist das Ziel.

00:08:26: Genau. Das Thema mit der Distanz der Kamera war wichtig, weil wir uns gewünscht haben,

00:08:33: dass die Menschen so reagieren wie sie reagieren würden, wenn keine Kamera dabei ist.

00:08:37: Sobald die Sehenden eine Kamera sehen, agieren sie nicht mehr immer natürlich.

00:08:43: Das ist etwas, das bei euch super war. Dadurch, dass ihr die Kameraobjektive, die auf euch gerichtet waren,

00:08:52: nicht gesehen habt, hat das euch auch nicht verändert oder irritiert.

00:09:00: Ich hatte immer gehofft, dass Jonas und du so bleibt wie ihr seid,

00:09:05: und euch nicht verändert, wenn die Kameras anfangen zu laufen. Das ist oft ein Problem.

00:09:10: Hat es vielleicht auch damit zu tun, dass Jonas und ich, wenn wir gemeinsam reisen,

00:09:14: immer miteinander reden müssen? Wir mussten nicht fürs Fernsehen spielen: «Da müssen wir jetzt rechts.»

00:09:20: Wir müssen das sowieso immer sagen, damit es der andere weiss.

00:09:23: Voraussetzung dafür, dass die Sendung funktionierte, war für mich, dass ihr euch so rege ausgetauscht habt.

00:09:30: Dadurch erlebte und erfuhr das Publikum viel – auf der informativen Ebene

00:09:36: genauso wie auf der Beziehungsebene. Ihr macht Witze zusammen, versteht euch gut,

00:09:41: seid warmherzig, gute Freunde, könnt euch auch mal gegenseitig necken.

00:09:47: Jonas ist eher ruhig und lakonisch, du bist der, der viel redet und extrovertiert ist.

00:09:56: So habt ihr auch auf der Beziehungsebene sehr gut funktioniert. Das war sehr wichtig.

00:10:02: Hat das schlussendlich den Ausschlag gegeben, dass ihr euch entschieden habt, die Sendung zu machen?

00:10:06: Ja, absolut. Wenn mit Moderator:innen oder Protagonist:innen gedreht wird,

00:10:10: muss das funktionieren. Die müssen eine Sendung tragen können.

00:10:14: Schlussendlich habt ihr die 50, 40, 45 Minuten – wie lange waren die Episoden?

00:10:19: 42 Minuten.

00:10:21: 42, genau! Schlussendlich musstet ihr diese wie auf euren Schultern tragen.

00:10:25: Und das geht nur, wenn man euch sympathisch, spannend und lustig findet –

00:10:31: euch gerne zuschaut und zuhört. Sonst hätte das nicht funktioniert.

00:10:34: Als wir uns das zweite Mal trafen, hast du erwähnt, dass die Sendung auf SRF zwei um 22.55 Uhr laufen wird.

00:10:42: Schlussendlich lief sie am Freitagabend um 21 Uhr auf SRF 1. Wie hat die Sendung das geschafft?

00:10:49: An der Entwicklung des Formats habe ich ziemlich lange gearbeitet.

00:10:55: Zum ersten Entwurf kam die Rückmeldung: «Das kannst du niemandem zeigen, das ist total unbrauchbar.»

00:11:06: Ich habe schon sehr lange daran gearbeitet und mir viele Gedanken gemacht

00:11:11: und versucht, eure Wahrnehmung in das Ganze einzubringen – also wie eine Person,

00:11:17: die nicht richtig sieht, die Realität wahrnimmt. Dies wollte ich auch noch visuell umsetzen

00:11:26: und das hat nicht funktioniert. Nach dem Hammerschlag, von wegen das sei unbrauchbar,

00:11:34: musste ich mich entscheiden, ob ich das Projekt aufgebe. Ich wollte das auf keinen Fall.

00:11:42: Ich war überzeugt: Yves und Jonas sind super. Ich holte mir Input von einem Kollegen,

00:11:47: der Drehbuchautor ist, weil ich überzeugt war, dass das Format Potenzial hat.

00:11:53: Mein Kollege bestätige dies. Also schickte ich das Rohmaterial an einen weiteren Kollegen,

00:11:57: der als Editor und Filmemacher tätig ist und bat ihn, einfach mal 20 Minuten so zu schneiden,

00:12:02: wie er das gut finden würde. Ich musste nochmals zurück an den Anfang. Mein Kollege sagte mir dann,

00:12:09: für ihn sei das einfach eine Reisesendung. Er hat’s dann so geschnitten

00:12:12: und so hat es dann auch funktioniert.

00:12:15: In allen Sendungen, in denen ich seit Kindesbeinen vorkam, wurde immer versucht

00:12:20: zu zeigen, wie ich sehe. Und das häufig dann auch so, dass ich mich gefragt habe:

00:12:25: «Wie wollt ihr das machen, wenn ich selbst nicht mal richtig erklären und vergleichen kann, wie das ist.?»

00:12:29: Ist das vielleicht eine wie eine «Krankheit» der Fernsehmacher:innen, dass sie dies versuchen?

00:12:34: So wie wir Radiomacher:innen versuchen, Stimmen zu imitieren?

00:12:37: Dabei geht es um das Paradox, dass es sich um ein visuelles Produkt mit Menschen handelt,

00:12:44: die das selber gar nicht sehen können. Da fragt man sich natürlich,

00:12:47: wie diese Menschen die Welt wahrnehmen und was sie eigentlich sehen.

00:12:52: Ich habe dann irgendwann den Film von Marc Forster im Kino gesehen,

00:12:55: bei dem es um eine Frau ging, die nichts sah. Er hat dann auch versucht,

00:13:01: Bilder zu kreieren, die zeigen, was sie sieht. Und es war total schlecht.

00:13:07: Dann habe ich mir gedacht, wenn er das nicht schafft – mit Hollywood und allem –

00:13:11: dann ist es besser, dieses Stilmittel zu lassen.

00:13:14: Wir sind dann in die Welt hinausgezogen und nach Athen, Berlin und Jerusalem gereist.

00:13:19: Du warst dann leider nur bei einer Reise dabei, in Athen.

00:13:24: Wie sind dir die Passant:innen aufgefallen? Deren Blicke, die wir ja nicht gesehen haben?

00:13:29: Du weisst ja, wir haben diese Athener:innen als extrem nette Menschen erlebt.

00:13:35: Ich kann mich nicht richtig erinnern ausser, dass sie total easy waren, auch mit der Kamera.

00:13:40: Es gibt ja dann solche – in Berlin habt ihr das ja zum Beispiel erlebt – die fragen:

00:13:44: «Was macht ihr da? Was wird da gefilmt? Und ich will dann nicht im Fernsehen kommen.»

00:13:47: Das Problem hatten wir in Athen nicht, die Menschen waren offen und neugierig.

00:13:53: Wie habt ihr das im Allgemeinen mit dem Eingreifen gehandhabt?

00:13:56: Ihr durftet ja nicht eingreifen, auch wenn wir beinahe von einem Auto

00:13:59: erfasst worden oder in ein Loch gestürzt wären. Wie war das für euch?

00:14:02: In Athen lernte ich schnell einzuschätzen, was ihr könnt.

00:14:08: Ich wusste, das kommt schon gut. Ich hatte nie ein ungutes Gefühl.

00:14:15: Auch nicht, wenn wir in etwas reingelaufen sind?

00:14:16: Nein. Das wolltet ihr ja auch zeigen. Wir haben am Anfang lange und intensiv besprochen,

00:14:20: ob man das zeigen darf. Auch, ob man über euch lachen darf.

00:14:25: Wir fragten uns, ob das erlaubt oder das völlig fehl am Platz ist,

00:14:29: wenn wir Sehenden Sachen sehen, die euch wegen eurer Beeinträchtigung

00:14:32: passieren und die wir dann lustig finden. Ist das okay?

00:14:34: Ihr fandet das okay und da es für euch gepasst hat, war das für uns natürlich super.

00:14:41: Weil so konnten wir etwas machen, das man sonst nicht darf.

00:14:44: So konnte diese Sendung etwas leisten, was man sonst nicht darf,

00:14:47: wie auch einmal über Menschen mit Beeinträchtigung zu lachen.

00:14:49: Gleichzeitig war auch klar, ihr seid die Helden dieser Sendung,

00:14:56: ihr seid bewundernswert, mutig, total selbständig.

00:15:03: Ihr seid in keiner Art und Weise Menschen, die bemitleidet werden sollten.

00:15:09: Ihr habt absolut nichts Bemitleidenswertes an euch. Und das war so toll daran.

00:15:17: Hat es nie Momente gegeben, wo du eingreifen wolltest oder eingegriffen hast?

00:15:24: Nicht direkt, es war dann mehr so, wenn ihr drei Stunden im Kreis gegangen seid

00:15:28: und die Tonfrau kaum mehr das Mikrofon halten konnte

00:15:32: und die Kamerafrau schon fast aus den Schuhen kippte, dann schon.

00:15:36: Wir haben ja immer gefilmt. Normalerweise macht man eine Moderation,

00:15:42: dann kommt eine Begegnung, dann kommt diese Einstellung –

00:15:48: alles ist geplant. Mit euch war nichts geplant, wir sind euch einfach gefolgt

00:15:54: und haben immer gefilmt. Da gab es manchmal schon Momente

00:16:00: in denen ich das Gefühl hatte, jetzt geht es dann nicht mehr, so dass ich sagte:

00:16:03: «Stopp – jetzt gehen wir mal was trinken».

00:16:06: So wie wir das mitbekommen haben, hast du das Produktionsteam

00:16:10: sehr sorgfältig zusammengestellt. Es musste für den Ton eine Person sein,

00:16:15: die dreimal mitreist und auch bei der grössten Hitze den Arm lange hochhalten

00:16:21: und das Mikrofon in der Luft halten kann oder an der Kamera

00:16:25: musste es jemand sein, der grosse Ausdauer hat.

00:16:27: Das ist etwas, das ich grundsätzlich erwarte von eine:r Toningenieur:in

00:16:34: oder jemandem, der die Kamera macht. Sie brauchen grundsätzlich Ausdauer.

00:16:44: Wichtiger war mir, dass wir uns sehr gut verstehen. Ihr musstet uns vertrauen,

00:16:52: ihr habt ja nicht gesehen, was wir tun und wusstet ja nicht einmal, wie wir aussehen.

00:16:58: Wir waren dafür verantwortlich, dass ihr gut dargestellt werdet.

00:17:06: Auch im übertragenen Sinn. Dass ihr zum Beispiel nirgends Flecken

00:17:11: an der Kleidung habt oder in blöde Situationen kommt, wo man sich fragt:

00:17:16: «Was ist jetzt mit denen los?» Ich wusste, wir müssen uns gut verstehen,

00:17:21: wirklich gut, weil sonst fühlt ihr euch nicht wohl und wenn dem so ist,

00:17:24: könnt ihr nicht authentisch sein und wenn ihr nicht authentisch seid,

00:17:28: dann ist die Magie des Ganzen weg.

00:17:32: Jetzt habe ich dir schon viele Fragen gestellt – du sollst jetzt auch die Möglichkeit

00:17:36: bekommen, mir Fragen zu stellen. Du hast ja ein paar mitgebracht.

00:17:40: Ja genau.

00:17:48: Es geht natürlich um deine Freundin. Irgendwann hast du erwähnt,

00:17:51: dass du eine Freundin hast. Ich habe mich sehr für dich gefreut.

00:17:54: Du hast sie auf Tinder kennengelernt. Da habe ich mich gefragt,

00:18:02: wie und wann sagt man jemandem, den man auf Tinder kennenlernt,

00:18:08: dass man nicht gut sieht? Macht man das, bevor man sich trifft?

00:18:12: Oder später? Oder ist das so eine «Sehenden-Frage» die etwas deplatziert ist?

00:18:17: So im Sinne von: Ich als Sehende würde ja auch nicht sagen, dass z.B.

00:18:20: bei mir ein Fuss eine Schuhnummer grösser ist als der andere?

00:18:25: Die Frage ist durchaus berechtigt. Wenn du dich z.B. auf einen Job bewirbst,

00:18:30: dann stellt sich ja auch die Frage, ob man das sagen soll oder nicht.

00:18:32: Ich finde es wichtig, dies zu sagen, denn es ist ja ein Teil von mir

00:18:36: und es lässt sich ja nicht verstecken. Ich lege lieber gleich die Karten auf den Tisch

00:18:41: Tisch als dass es dann im Nachhinein das Killerargument ist.

00:18:43: Klar, es gibt auch andere, die sagen: «Warum soll das ein Killerargument sein?

00:18:46: Es ist ein Teil von dir und entweder man akzeptiert dich so wie du bist oder eben nicht.»

00:18:51: Bei Tinder ist es aber etwas speziell, weil die App über Fotos funktioniert.

00:18:55: Und da habe ich eh keine Chance. Darum habe ich einfach mal alle Vorschläge angenommen.

00:19:00: Als Mann ist das relativ einfach, weil es antworten sowieso nur wenige Frauen.

00:19:04: Und dann habe ich angefangen, denen zu schreiben und beim Schreiben

00:19:07: war es mit ihr so unkompliziert, dass ich es dann einfach mal geschrieben habe.

00:19:13: Ich weiss es gar nicht mehr genau. Irgendwann löschst du die App ja.

00:19:17: Danach fand ich es schade, denn es wäre noch spannend gewesen, diese Konversation zu haben.

00:19:24: Aber die ist dann weg. Also irgendwo in Amerika wird sie wohl noch sein.

00:19:27: Ich muss gestehen, ich kenne Tinder nicht.

00:19:29: Du schreibst auf dieser Plattform im Chat und irgendwann löschst du das Profil,

00:19:35: weil du dann ja vergeben bist und nicht mehr auf der Plattform sein willst.

00:19:38: Und dann ist der Chatverlauf weg. Und dann merkst du irgendwann:

00:19:40: «Mist, es wäre schön gewesen, den Chat noch zu haben.»

00:19:44: Den Verlauf habe ich nicht mehr. Und darum weiss ich nicht mehr genau,

00:19:47: wann ich es geschrieben habe. Aber ich würde das immer so machen

00:19:51: machen und es vor dem Date sagen, weil ich würde nicht dastehen wollen

00:19:54: und dann kommt der Aha-Effekt. Beim Verabreden war es auch immer

00:19:58: ein guter Moment, es zu sagen. Im Sinne von:

00:20:01: «Ich sehe nicht gut, ich habe einen Stock und du musst auf mich zukommen.»

00:20:05: Dann hätte die andere Person immer noch die Möglichkeit,

00:20:09: einen Rückzieher zu machen und zu sagen:

00:20:11: «Wenn das so ist, dann komme ich lieber nicht.»

00:20:12: Verstehst du, was ich meine?

00:20:14: Ja. Hast du das mal erlebt? Ist dir das mal so passiert,

00:20:17: dass jemand sagte: «Nein in dem Fall lieber nicht?»

00:20:19: Nein, es ist meist eher diffus, dass man den Job nicht bekommt

00:20:26: oder man mit einer Frau keinen Kontakt mehr hat.

00:20:29: Man weiss ja dann nicht genau, woran es liegt.

00:20:30: Liegt es an meinen Qualitäten? An meiner Grösse? An meinem Körperbau?

00:20:34: An meinen Fähigkeiten und meinen Eignungen? Oder liegt es eben an meiner Sehbehinderung?

00:20:37: Das ist ja das Problem bei der Diskriminierung.

00:20:41: Das ist eben genau der Teil, den du nicht nachvollziehen kannst.

00:20:43: Dass es niemand sagt, auch wenn er oder sie es denkt.

00:20:46: Das ist irgendwie ein bisschen unfair.

00:20:47: Ja, das ist unfair.

00:20:49: Dann machst du immer tausend Gedanken, was es jetzt ist?

00:20:52: Ja und du weisst es nie genau. In der Liebeswelt ist das eine,

00:20:59: aber z.B. auch in der Arbeitswelt – du kannst niemanden haftbar machen,

00:21:02: denn du weisst es nicht. Vielleicht bin ich einfach eine Niete,

00:21:06: vielleicht kann ich einfach nichts.

00:21:08: Ja genau, es dreht dann im Kopf. Das verstehe ich.

00:21:11: Und wie hat sie dann reagiert?

00:21:13: Sehr gut. Für sie war es kein Thema. Lustigerweise kannte sie mich nicht,

00:21:18: auch nicht von «Blindflug».

00:21:22: Obwohl dich die halbe Schweiz gekannt hat.

00:21:24: Ja, plötzlich wirst du etwas bekannter und dann denkst du:

00:21:26: «Ich will ja nicht eine nur wegen der Fernsehsendung.» Lustigerweise ging sie mit Jonas zur Schule.

00:21:33: Wenn wir jetzt schon von «Frauen ansprechen» sprechen.

00:21:36: In Genf, da hatten wir mit einer Frau zu tun und das Treffen blieb mir in Erinnerung.

00:21:42: Wir trafen die ehemalige Bundesrätin Micheline Calmy-Rey.

00:21:46: Mir blieb sie nicht nur in Erinnerung, weil sie eine ehemalige Bundesrätin ist,

00:21:50: sondern auch aufgrund ihres Verhaltens. Kannst du dich auch noch erinnern?

00:21:54: Auf jeden Fall, ja. Sie war so ein Paradebeispiel für jemanden,

00:22:00: der es mit euch zu gut machen wollte. Sie meinte es gut,

00:22:07: hat sich zwei Stunden Zeit genommen, ist mit euch durch Genf gelaufen

00:22:11: und hat euch Dinge erzählt. Aber sie hat irgendwie eure Fragen nicht verstanden.

00:22:17: Beim Rathaus habt ihr gefragt: «Wie sieht es hier aus?». Sie war damit überfordert,

00:22:23: sagte zu ihrem Begleiter, dass sie gar nicht wisse, was sie jetzt da sagen solle

00:22:27: und aus welchem Jahr das Bauwerk stammte und wer das genau gebaut habe.

00:22:32: Ihr hingegen wolltet Dinge wisse wie, dass es z.B. eine rote Decke, Bögen und Säulen hat.

00:22:39: Sie hätte euch einfach sagen müssen, was sie sieht. Euch sozusagen ihre Augen leihen.

00:22:44: Das konnte sie nicht, weil sie das Gefühl hatte, sie müsste euch etwas liefern.

00:22:51: Das war interessant. Es gab dann andere Leute, die das ganz intuitiv gemacht haben,

00:22:57: wie der Mann in der Akropolis der einfach sagte:

00:22:59: «Hier hat es sieben riesengrosse Säulen, zu denen wir aufschauen. Sie sind sehr eindrücklich,

00:23:07: die in der Mitte ist auseinandergebrochen und wahrscheinlich hatte es einmal Dach.»

00:23:11: Er hat das sehr eindrücklich beschrieben und genau das gemacht, was ihr gebraucht habt.

00:23:16: Ich fand das Treffen mit Micheline Calmy-Rey so spannend, weil es mir zeigte,

00:23:22: dass es eine riesige Leistung ist, was die Sehenden tagtäglich für uns machen,

00:23:26: wie sie uns die Welt beschreiben. Und gleichzeitig braucht es auch gar nicht viel,

00:23:31: sehr wenig reicht schon aus.

00:23:33: Lustig war es ja auch, weil das auch sehr viel über eine Person aussagt,

00:23:38: wie sie etwas beschreibt und was sie von dem was man sieht, erzählt.

00:23:42: Wenn ich mir das als Sehende dann anschaue, und das Bild und Erzählte

00:23:49: nebeneinander sehe, sagt das viel über die Person aus.

00:23:55: Es ist wieder: Blinde sehen mehr. Weil ihr nicht seht, bringt ihr Sachen aus Menschen heraus,

00:24:02: die man anders gar nicht erkennen könnte.

00:24:05: Genau darum sind Begegnungen so spannend. Begegnungen in Genf

00:24:09: mit einer ehemaligen Bundesrätin und mit weiteren Menschen, oder Begegnungen

00:24:12: in Athen, Berlin, Jerusalem – ohne dass wir das Ziel erreicht haben –

00:24:16: die sagen auch etwas aus über das Land und die Kultur aus.

00:24:18: Ja, vor allem über die Menschen und die Gesellschaft. Paraskevi in Griechenland hat uns ja gesagt ...

00:24:25: Sie, die sehbehindert ist.

00:24:27: Genau, sie ist auch sehbehindert, eine junge Griechin.

00:24:30: Sie hat gesagt, dass es sehr viel über eine Gesellschaft aussagt, wie sie als Gemeinschaft

00:24:35: mit Menschen mit Beeinträchtigungen umgeht. Damit hat sie wirklich recht.

00:24:42: Ich finde die Sendung hat einen guten Schritt gemacht, um zu zeigen,

00:24:45: was alles möglich ist. Und das auf eine positive Art.

00:24:50: Sonst – wenn ich mit etwas nicht zufrieden bin – habe ich nur die Möglichkeit,

00:24:52: mich zu beklagen. Ich kann nur kritisieren. Ich kann nur sagen:

00:24:56: «Eure Website ist nicht barrierefrei», etc.

00:24:58: Hier konnte man das auf eine positive Art aufzeigen, ohne den Mahnfinger zu heben.

00:25:04: Ich habe es satt, mich immer beschweren zu müssen.

00:25:07: Das verstehe ich. Man will ja nicht immer der sein, der sich beschwert

00:25:12: und der ein bisschen das «Opfer» ist. Genau das wollten wir ja nicht.

00:25:17: Ja, genau. Als Held würde ich mich dennoch nicht bezeichnen.

00:25:19: Du hast gesagt, wir seien Helden. Das würde ich nicht sagen. Wir waren einfach so,

00:25:22: wie wir sind. Es gab auch Leute, die sagten, wir hätten Mut,

00:25:26: mit Polizisten in Jerusalem herumzulaufen. Da musste ich erklären,

00:25:30: dass das mit Mut nichts zu tun hat. Ich hatte ja nicht gesehen,

00:25:33: dass der Mann ein Polizist ist. Dann kann ich ja gar nicht mutig sein.

00:25:35: Ich bin mit einem Menschen herumgelaufen und habe ihn

00:25:37: nicht in eine Schublade gesteckt. Mut war das für mich nicht,

00:25:42: ich habe ja nicht gesehen, dass er eine Waffe dabei hatte.

00:25:44: Ja.

00:25:45: Du hast ja sehr lange für die Sendung gearbeitet. Hast du das Gefühl,

00:25:49: dass Menschen mit Behinderung in den Medien genügend

00:25:51: und richtig vorkommen? Ich würde sagen: genügend ja aber richtig nicht.

00:25:56: Weil sie häufig in der Opfer- oder Heldenrolle sind aber nicht so,

00:25:59: wie sie wirklich sind. Irgendwie nicht so real.

00:26:02: Ich kann da keinen statistischen Überblick geben, ich weiss es nicht.

00:26:06: Aber ich habe auch das Gefühl, dass Menschen mit Beeinträchtigungen

00:26:10: eher so in den Medien vorkommen, wie du es beschrieben hast.

00:26:12: Dass sie sich beklagen, dass sie sagen, was sie nicht gut finden,

00:26:17: warum sie nicht dieses und jenes zur Verfügung gestellt bekommen,

00:26:22: dass sie finden sie bräuchten mehr Geld, mehr Aufmerksamkeit – solche Sachen.

00:26:26: Es wird weniger gezeigt: «Schaut her, wir sind super, was wir alles können,

00:26:31: was wir alles erleben. Wir können euch unterhalten, ihr könnt mit uns mitkommen

00:26:36: und ihr habt eine gute Zeit mit uns zuhause vor dem Fernseher auf dem Sofa.»

00:26:41: Solche Sachen fehlen.

00:26:43: Sara, wir könnten noch ewig zusammen weiterreden, das weiss ich.

00:26:47: Das können wir ja auch tun, einfach vielleicht nicht hier.

00:26:51: Danke, dass du hierhergekommen bist und vor allem auch,

00:26:56: dass du in die erste Folge dieses Podcasts gekommen bist.

00:26:59: Zusammen mit dir habe ich die Welt bereist, mit dir habe ich die Fernsehwelt

00:27:05: ein grosses Stück besser kennengelernt und mit dir habe ich eine wunderbare Zeit verbracht.

00:27:09: Und ich durfte die erste Folge hier mit dir machen. Vielen Dank.

00:27:12: Danke dir vielmal.

Neuer Kommentar

Dein Name oder Pseudonym (wird öffentlich angezeigt)
Mindestens 10 Zeichen
Durch das Abschicken des Formulars stimmst du zu, dass der Wert unter "Name oder Pseudonym" gespeichert wird und öffentlich angezeigt werden kann. Wir speichern keine IP-Adressen oder andere personenbezogene Daten. Die Nutzung deines echten Namens ist freiwillig.