Sinnesbeeinträchtigungen im Selbstversuch

Shownotes

Es ist imfall gar nicht mal so easy, als sinnesbeeinträchtigte Person über das komplexe Weltgeschehen up-to-date zu sein und an Wissen zu gelangen. Das weiss unser Podcast-Host Yves Kilchör aus eigener Erfahrung. Und auch «Einstein»-Moderator Tobias Müller ist schon einige Male in die Welt von gehörlosen und blinden Menschen eingetaucht. Wie sich das so anfühlt, darüber tauschen sich die beiden in der dritten Folge von «Stereotyp» aus.

«Stereotyp» ist ein Podcast von SRG Insider mit Unterstützung der Stiftung Denk an mich.

Transkript anzeigen

00:00:00: Aber Tobias, wie muss ich es jetzt richtig sagen, damit ich diesen Leuten

00:00:04: auch gerecht werde? Sagt man «gehörlose Menschen» oder wie sagt man es genau?

00:00:09: Ja, «gehörlose Menschen» ist richtig. «Gehörlose» ist nicht gut. Man sagt besser:

00:00:12: «gehörlose Menschen», «Menschen mit Hörbehinderung» und «hörbehinderte Menschen».

00:00:18: Das geht auch? Es gibt ja auch viele, die nicht so gut hören oder gar nichts hören.

00:00:24: Genau. Was würdest du denn sagen?

00:00:26: Ich finde es auch schön, wenn ich sagen kann: «Leute, die nicht gut hören»

00:00:30: oder «Leute, die gar nichts hören».

00:00:32: Das kommt dem Schweizerdeutschen eigentlich am nächsten, das gefällt mir auch.

00:00:40: «Stereotyp» – der Podcast von SRG Insider mit Yves Kilchör.

00:00:43: Dabei geht’s um «Öpis mit Medie» und Denkmuster, über die wir reden müssen.

00:00:49: «Wissen ist Macht» heisst es doch und darum ist es wichtig, dass möglichst alle Leute

00:00:54: zu Wissen gelangen. Ich selber sehe nur zwei Prozent und weiss daher aus eigener Erfahrung,

00:00:59: dass das manchmal gar nicht so einfach ist: Wenn du im Internet

00:01:02: irgendwelche Bilder hast, die du nicht sehen kannst. Grafiken, die du nicht deuten kannst.

00:01:06: Texte, die plötzlich unlesbar sind. Oder Videos, die nur Untertitel haben.

00:01:11: Und darum kann ich mir gut vorstellen, wie es Leuten geht, die nicht gut hören oder

00:01:15: gar nichts hören – und dadurch keinen Zugang zu Wissen haben. Jetzt soll dieser Zugang

00:01:20: aber etwas einfacher werden für diese Menschen – dank «Einstein» –

00:01:23: der Wissenschaftssendung von SRF. Und wie das genau funktioniert,

00:01:27: erzählt Tobias Müller in dieser Sendung. Hallo Tobias!

00:01:30: Hallo Yves! Es freut mich, hier zu sein!

00:01:32: Es freut mich auch, dass du da bist und mich freut vor allem das neue Angebot,

00:01:35: das ihr seit dem neuen Jahr habt. Ihr übersetzt «Einstein» in Gebärdensprache.

00:01:42: Erzähl mal, wie funktioniert das genau?

00:01:44: Es ist grundsätzlich so, dass die SRG von Jahr zu Jahr versucht, das Programm auszubauen

00:01:50: für Menschen mit einer Hörbehinderung oder auch gehörlose Menschen.

00:01:56: Dieses Jahr kommen noch mehr Programminhalte dazu, darunter auch

00:02:00: die Sendung «Einstein». Diese wird jetzt Woche für Woche von Dolmetschenden übersetzt.

00:02:06: Wir produzieren unsere Sendung eigentlich wie gewohnt – aber wenn sie fertig ist,

00:02:11: kommt sie zu den Dolmetschenden, die diese in Gebärdensprache übersetzen.

00:02:17: Nachher wird sie auch in dieser Form gesendet, damit sie eben für Menschen

00:02:21: mit einer Hörbehinderung oder für gehörlose Menschen auch besser empfänglich ist.

00:02:25: Also, wenn ich jetzt am Donnerstagabend «Einstein» schaue – oder es schaut

00:02:30: jemand anders – dann ist auch die Person, die dort dolmetscht zu sehen?

00:02:35: Nein, am Donnerstagabend läuft die Sendung ganz normal. Sie wird dann zusätzlich

00:02:39: noch in der Gebärdensprachfassung ausgestrahlt.

00:02:43: Gebärdensprache gibt es in verschiedenen Sprachen. Es gibt eine deutsche, habe ich gelesen.

00:02:47: Es gibt eine italienische, französische und es gibt auch verschiedene Dialekte.

00:02:51: Wie macht man das bei «Einstein»? Gibt’s – weil du St.Galler bist –

00:02:56: die Gebärdensprache in St.Gallerdeutsch?

00:02:58: Nein, mit mir hat es gar nichts zu tun. Es kommt auf die dolmetschende Person an,

00:03:02: also wie sie in ihrer Gebärdensprache redet. Es sind insgesamt fünf Dolmetschende,

00:03:09: welche die Sendungen im Wechsel immer wieder dolmetschen und übersetzen.

00:03:14: Und je nachdem, wie sie reden beziehungsweise gebärden, kommt dann

00:03:19: halt auch der Dialekt rüber. Beispielsweise gibt es ganz verschiedene Formen,

00:03:22: wie man «Brot» sagen kann. Der Thurgauer oder die Thurgauerin sagt «Brot»

00:03:28: anders als eine Bernerin oder ein Berner, beziehungsweise gebärdet es anders.

00:03:33: Die erste Sendung vom neuen Jahr – die erste Sendung, die gebärdet kam –

00:03:38: die ist speziell. Das ist eine Sendung, die ihr auch diesem Thema gewidmet habt.

00:03:43: Ja, weil wir finden, dass es die Aufgabe von «Einstein» ist, das Unsichtbare sichtbar machen.

00:03:49: Das ist unser Credo, das wir in dieser Sendung haben. Und dann haben wir davon gehört,

00:03:54: dass die SRG das Programm für hörbehinderte und gehörlose Menschen weiter ausbauen will.

00:04:00: Und wir fanden: «Komm, wir zeigen einmal, wie das funktioniert –

00:04:03: am Beispiel unserer Sendung. Was da im Hintergrund überhaupt alles läuft!»

00:04:08: Es gibt viele Sachen, die passieren, die man sich gar nicht überlegt.

00:04:11: Es ist nicht so, dass dann einfach eine Gebärdensprachdolmetscherin kommt

00:04:15: und hört, was in unserer Sendung gesagt wird und das 1:1 übersetzt –

00:04:18: so wie es zum Beispiel bei den Medienkonferenzen vom BAG gemacht wird,

00:04:22: die ja auch regelmässig übersetzt werden. Sondern sie bekommen wirklich

00:04:27: das ganze Transkript unserer Sendung. Und weil wir eine Wissenschaftssendung sind

00:04:31: und auch immer wieder komplizierte Begriffe haben, müssen sich auch die

00:04:35: Dolmetschenden stark mit dieser Thematik auseinandersetzen,

00:04:38: damit sie überhaupt richtig gebärden können. Und was auch noch dazukommt ...

00:04:42: Warte mal schnell: Bevor wir dazu kommen, müssen wir noch etwas erklären.

00:04:46: Also die Dolmetschenden bekommen die Sendung so, wie wir sie im Fernsehen sehen.

00:04:49: Und weil ihr jedes Wort quasi abschreibt oder vorschreibt,

00:04:53: sehen die Dolmetschenden dann auch euren Sprechtext.

00:04:55: Ganz genau. Jedes gesprochene Wort in unserer Sendung,

00:05:00: schreiben wir auch noch auf. Es gibt ein Transkript von der Sendung,

00:05:04: das wir zum Beispiel für die Vertonung brauchen. Und das bekommen

00:05:08: die Dolmetschenden als Stütze, damit sie gerade schon wissen: «Ah, das und das wird gesagt.»

00:05:13: Ist das das Einzige, was ihr macht oder musst du ab jetzt auch noch etwas

00:05:17: anders machen, weil es eben in Gebärdensprache übersetzt wird?

00:05:22: Nein, das ist für uns das Einzige.

00:05:23: Und dann wolltest du vorher noch sagen: «Dann kommt noch hinzu …»

00:05:26: Dann kommt noch hinzu: Viele Leute haben das Gefühl – und das habe ich vorher

00:05:31: auch gedacht – dass die Gebärdensprache quasi eine Übersetzung 1:1 vom Deutschen ist.

00:05:37: Aber das ist es überhaupt nicht. Also in der Gebärdensprache wird sehr häufig

00:05:41: auch verkürzt und sehr bildhaft gesprochen. Es wird nicht einfach

00:05:45: Wort für Wort in einer Gebärde aufgezeigt, sondern quasi als Geschichte

00:05:52: in Form von Bildern erzählt. Je intensiver man sich mit dem Text auseinandersetzt –

00:05:58: das ist dann die Aufgabe der dolmetschenden Person – desto besser

00:06:03: kann man das Ganze auch in Bildern und einer verkürzten Form erzählen.

00:06:08: Gerade wenn jemand sehr schnell redet, ist es wahnsinnig schwierig,

00:06:11: der Gebärdensprache überhaupt folgen zu können. Also muss man probieren,

00:06:16: das Ganze in einer Kurzfassung rüberzubringen.

00:06:19: Haben sie dir schon gesagt, ob du ein einfacher oder ein schwieriger Kandidat bist?

00:06:22: Also Natasha, die mit mir die Sendung moderiert hat, hat gesagt, es sei alles okay.

00:06:27: Du moderierst mit einer Person, die nicht gut hört oder fast nichts hört.

00:06:33: Wie habt ihr das gemacht?

00:06:35: Ich muss vielleicht zuerst einmal sagen, warum wir das überhaupt gemacht haben:

00:06:38: In dieser Sendung geht es um die Gebärdensprache.

00:06:42: Es geht um gehörlose Menschen. Also warum sollen wir als Hörende

00:06:48: diese Sendung alleine machen? Es macht doch Sinn, dass wir jemanden dazunehmen.

00:06:52: Eine Person, die aus der Welt der gehörlosen Menschen kommt und darum

00:06:56: auch eine ganz andere Perspektive auf das Thema und die Probleme hat,

00:07:02: die es beispielsweise rund um die Integration gibt. Das ist auch ein ganz wichtiges Thema.

00:07:06: Weil sie sich eben häufig ausgeschlossen fühlen, weil sie nicht mitreden können?

00:07:11: Ja, weil sie nicht mitreden können. Weil es ganz viele Probleme gibt,

00:07:14: die wir Hörende gar nicht als Probleme erkennen. Ich habe beispielsweise immer gedacht:

00:07:22: «Für gehörlose Menschen ist es einfach am politischen oder gesellschaftlichen Leben

00:07:29: ganz allgemein teilzunehmen. Weil sie können ja alles lesen, was zum Beispiel

00:07:32: in der Zeitung steht. Sie können sich über alles informieren.»

00:07:35: Aber was ich nicht gewusst habe: Wie schwierig lesen für sie überhaupt ist.

00:07:40: Weil Deutsch ist für sie eine Fremdsprache. Ihre Muttersprache ist die Gebärdensprache.

00:07:44: Gerade für die älteren Generationen: Damals war das Bildungssystem

00:07:48: einfach noch so schlecht, dass sie erst sehr spät Deutsch gelernt haben.

00:07:53: Darum ist es für sie wahnsinnig schwierig, einen Text oder zum Beispiel auch

00:07:56: einen komplexen politischen Text zu lesen. Und da sind so viele Barrieren, die es noch gibt.

00:08:03: Und das erfährt man erst, wenn man mit jemandem spricht, der betroffen ist.

00:08:07: Oder wenn man jemanden in die Sendung holt, der betroffen ist – wie Natasha.

00:08:11: Als wir in Bundesbern waren, hat sie der Politikerin ganz andere Fragen gestellt,

00:08:16: als ich das überhaupt gekonnt hätte, weil sie eine andere Perspektive hat.

00:08:19: Es zeigt auch, wie wichtig Diversity ist, oder?

00:08:23: Unbedingt. Das ist ein ganz grosses Thema. Inklusion ist ein grosses Thema,

00:08:28: weil bei Diversity viele nur an Mann und Frau denken. Aber gerade die Inklusion

00:08:34: wird häufig vergessen. Man denkt dann: «Es gibt 10 000 gehörlose Menschen

00:08:40: in der Schweiz, das ist ja gar nicht so viel». Aber trotzdem: Wenn man

00:08:43: von Inklusion spricht, dann müssen auch die 10 000 inkludiert werden.

00:08:48: Und wie hast du mit Natasha gesprochen oder kommuniziert?

00:08:55: Wir hatten eine Dolmetscherin dabei – immer dann, wenn wir miteinander etwas

00:08:59: für die Sendung gemacht haben. Ich muss ehrlich zugeben: Am Anfang hatte ich

00:09:04: eine gewisse Unsicherheit, weil ich nicht wusste, wie ich mit ihr kommunizieren soll

00:09:07: und ob das mit dieser dolmetschenden Person gut aufgeht. Wie muss ich reden?

00:09:11: Also wen schaue ich jetzt an? Schaue ich sie an, wenn ich mit ihr spreche

00:09:15: oder schaue ich die Dolmetschende an, die daneben steht? Das sind alles einfache Sachen,

00:09:20: die man am Anfang einmal hört. Und es ging wirklich nicht fünf Minuten und

00:09:24: wir haben uns unterhalten, als wäre es das Normalste auf der Welt.

00:09:28: Man gewöhnt sich so schnell daran. Ich glaube, das Wichtigste in diesem Fall

00:09:32: ist einfach, dass man sich nicht selber irgendwelche Barrieren im Kopf setzt

00:09:37: und das Gefühl hat, vielleicht einen Fehler zu machen.

00:09:39: Sondern, dass man den Menschen einfach so begegnet, wie allen anderen auch.

00:09:44: Und es gab natürlich Momente, bei welchen unsere Dolmetschende

00:09:47: mal eine Pause hatte oder gar nicht da war. Und auch dann konnten wir

00:09:50: uns bestens austauschen. Smartphones sei Dank: Natasha hat das eingetippt, was sie sagen wollte.

00:09:56: Und ich habe nachher mit der Diktierfunktion im Handy gesprochen.

00:10:01: Gleichzeitig hat es übersetzt und sie konnte mitlesen. Und das hat wunderbar funktioniert.

00:10:06: Und so hat sie übrigens auch ihre Partnerin an einer Bar kennengelernt.

00:10:10: Das ist noch eine schöne Anekdote: Ihre Partnerin kann hören und Natasha hat selber

00:10:14: gesagt, sie hatte mit dieser Welt sehr lange sehr wenig zu tun.

00:10:17: Bis sie ihre Partnerin an einer Bar kennengelernt hat und dort haben sie

00:10:21: sich am Anfang auch per Handy ausgetauscht.

00:10:23: Das ist eine schöne Geschichte. Gleichzeitig zeigt es auch:

00:10:27: Du hast wahrscheinlich durch diesen Kontakt, weil du und Natasha offen seid, sehr viel gelernt?

00:10:32: Ich habe sehr viel über das Thema Gebärdensprache gelernt und

00:10:38: auch über das Thema «gehörlos oder hörbehindert sein». Was das heisst,

00:10:44: was dort genau dahintersteckt und dass es viel komplexer ist, als man es

00:10:48: als aussenstehende Person denken würde. Was auch dazukommt:

00:10:53: Gerade hörbehinderte oder gehörlose Menschen gehen gerne vergessen, weil man sie

00:11:00: weniger sieht. Jemand, der mit dem Rollstuhl unterwegs ist, das sieht man sofort.

00:11:05: Den Blindenstock auch.

00:11:06: Den Blindenstock auch. Aber bei den hörbehinderten Menschen sieht man es kaum.

00:11:10: Vielleicht mal, wenn sie mit den Händen gebärden, aber sonst nicht.

00:11:14: Daher werden sie weniger wahrgenommen und es ist einem überhaupt

00:11:17: nicht bewusst, was sie brauchen und dass auch noch viele Barrieren da sind.

00:11:21: Wahrscheinlich vergessen wir deshalb auch häufig, dass sie sich

00:11:25: ausgeschlossen fühlen oder ausgeschlossen sind. Konntest du das nachempfinden,

00:11:29: weil du auch neue Wege suchen musstest, um mit Natasha zu sprechen?

00:11:33: Hast du dich auch mal ausgeschlossen gefühlt?

00:11:36: Es gab einen Moment, bei dem sie mit den Dolmetschenden gesprochen hat,

00:11:41: und dann stand ich auch wie bestellt und nicht abgeholt da,

00:11:45: weil ich ja nichts mitbekommen habe. Also wenn es Momente gab,

00:11:49: bei denen die Dolmetschende nicht immer für mich übersetzt,

00:11:52: sondern untereinander gesprochen haben, dann stand man einfach daneben

00:11:55: und dachte sich: «Ja, und jetzt?» Für mich war das aber ein schöner

00:12:00: und wichtiger Moment, weil Natasha mir gesagt hat: «Hey, so geht es mir immer.

00:12:06: Wenn ich mit Hörenden zu tun habe, fühle ich mich immer sehr unsicher.

00:12:09: Ich habe auch immer das Gefühl, ich mache etwas falsch oder ich kann mich

00:12:14: nicht richtig ausdrücken». Die Leute denken dann: «Was ist denn mit der los?»

00:12:18: Genau so ging es mir in dem Moment, wenn auch nur ansatzweise.

00:12:23: Als Journalist ist es sicher auch eine wichtige Erfahrung, dass man nicht nur

00:12:26: über etwas spricht, sondern wirklich auch eintaucht.

00:12:29: Ich muss sagen, es war eine grandiose Entscheidung, dass wir gesagt haben:

00:12:33: «Komm wir holen Natasha als Co-Moderatorin dazu.» Das hat auch mir eine

00:12:38: ganz andere Tiefe und Dimension gegeben, um ins Thema hineinzukommen.

00:12:44: Und um auch nachempfinden zu können, wie es ihr als gehörlose Frau geht.

00:12:49: Du tauchst in viele Situationen ein. Zwei konkrete Beispiele im Zusammenhang

00:12:53: mit Sinnesbehinderungen: Du bist blind Skifahren gegangen und du bist

00:12:57: mit einem Blindenführhund gelaufen. Wie realitätsnah ist das wirklich,

00:13:03: wenn du da blind Skifahren gehst? Es ist zwar cool, dass es jemand vom Fernsehen macht.

00:13:08: Aber gleichzeitig bist du nicht seit Geburt blind oder sehbehindert.

00:13:12: Das ist für dich automatisch etwas anderes. In der Fachwelt streitet

00:13:16: man sich übrigens, ob man Guides mal blind runterfahren lassen soll

00:13:19: oder ob das eben genau kontraproduktiv ist. Wie nahe sind die Erfahrungen

00:13:24: wirklich an der Realität und wie viel ist nicht auch ein bisschen Show für das Fernsehen?

00:13:28: Ich kann das gar nicht sagen, wie nahe das an der Realität ist.

00:13:32: Ich glaube, ich würde mir etwas anmassen, wenn ich sagen würde:

00:13:35: «Ja, das ist total realitätsnah!» Genauso wäre es, wenn ich sagen würde:

00:13:39: «Keine Ahnung, ob das nahe an der Realität ist.» Wie du sagst:

00:13:43: Ich kann es nicht nachempfinden. Ich stecke nicht in jemandem, der beispielsweise

00:13:49: wie du nur noch zwei Prozent sieht. Wir haben einfach unser Bestes getan,

00:13:54: damit mein Sichtfeld so eingeschränkt ist, so dass ich zum Beispiel

00:13:58: beim Skifahren nur noch vier Prozent sehe.

00:14:01: Das ist doppelt so viel, wie ich sehe.

00:14:02: Das ist doppelt so viel, wie du siehst. Ich glaube, es geht auch nicht darum,

00:14:08: dass wir eine Show oder Halligalli machen. Wir versuchen, mich als Moderator

00:14:15: in eine Situation hineinzuversetzen, um den Leuten mindestens ansatzweise zu zeigen,

00:14:23: wie es sich anfühlen kann. Und ich auch die Möglichkeit habe,

00:14:30: besser nachempfinden zu können – so wie wir es vorher besprochen haben,

00:14:36: was Natasha anbelangt. Dieser kleine Moment, währenddem ich daneben stand

00:14:40: und nicht verstanden habe, weil sie in Gebärdensprache gesprochen haben.

00:14:45: Das löst etwas in einem aus und das löst auch bei den Zuschauenden etwas aus.

00:14:49: Und genau das Gleiche beim Skifahren: Wenn ich dort runterfahre

00:14:54: und mich haut es auf der Piste fast um, weil es mir so schwindelig wird.

00:14:59: Dann wird einem einfach bewusst, welche Herausforderung das ist.

00:15:05: Auch wenn es nicht allzu realitätsnah ist. Dasselbe auch mit dem Blindenhund:

00:15:14: Da hatte ich eine Augenblinde auf, also nichts gesehen und mich dann

00:15:18: vom Hund führen lassen. Auch da weiss ich nicht, wie realitätsnah das ist.

00:15:22: Auch weil meine Sinne anders reagieren als die von jemandem,

00:15:26: der zum Beispiel von Geburt an sehbehindert ist. Und darum sinnlich ganz anders funktioniert.

00:15:33: Trotzdem glaube ich, gab es Momente, die eindrücklich für das Publikum sind,

00:15:38: weil man die Herausforderungen sieht.

00:15:40: Ich würde sagen, wir drehen den Spiess mal um. Willst du mir noch eine Frage stellen?

00:15:45: Ja!

00:15:52: Wir haben ja gerade vom Skifahren gesprochen. Bist du auch schon Skifahren gegangen?

00:15:55: Ja, ich fahre seitdem ich vier Jahre alt bin.

00:15:59: Wir haben ja darüber gesprochen, wie realitätsnah es ist,

00:16:03: wenn ich mit nur noch vier Prozent Sichtfeld versuche, Ski zu fahren.

00:16:09: Deshalb habe ich mir die Frage aufgeschrieben: Wie fühlt sich für dich Skifahren an?

00:16:15: Ich habe ja vorher auch gesagt, dass meine Sinne anders funktionieren als deine.

00:16:19: Mir wurde schon nach etwa 15 Metern hundeelend. Was für ein Gefühl ist es für dich, Ski zu fahren?

00:16:26: Du fährst Ski?

00:16:27: Ich fahre Ski. Sehr gerne und sehr viel.

00:16:30: Ich auch und es ist eine langweilige Antwort. Aber es fühlt sich für mich so an,

00:16:34: wie es sich für mich eben anfühlt. Ich kenne ja nichts anderes.

00:16:40: Ich kann keinen Umkehrschluss machen wie du.

00:16:43: Ich kann nicht Skifahren und alles sehen. Vielleicht wäre ich total überfordert

00:16:46: von all den Bildern, den Rasern, den Wolken und der Sonne. Weisst du, was ich meine?

00:16:51: Ich kann es dir nicht sagen. Was ich dir aber sagen kann:

00:16:55: Ich habe ja immer einen Guide hinter mir. Und wenn ich merke, dass ich

00:17:01: eine Piste runtergefahren bin und ich gar nicht gecheckt habe, was die mir gesagt haben –

00:17:06: dann konnte ich abschalten. Es ist einfach ein Fahren –

00:17:11: links, rechts, links rechts. Dann bin ich einfach in meinem Flow

00:17:15: und fahre die Piste runter, geniesse das und vergesse alles um mich herum.

00:17:19: Und was ich auch sagen kann: Es gibt für mich keine andere Möglichkeit,

00:17:26: bei der ich alleine so schnell unterwegs sein kann. Frei.

00:17:33: Ohne in einem Zug oder Auto zu sitzen oder auf einem Tandem-Velo.

00:17:39: Skifahren ist der Moment, bei dem man einfach alleine die Piste herunterfahren kann.

00:17:44: So weit bist du wahrscheinlich nicht gekommen, nehme ich an.

00:17:48: Aber der Moment, in dem dir der Guide sagt «frei» – dann fährst du selber

00:17:52: und erhältst kein Kommando mehr. Und dann gehst du auch schneller

00:17:57: weil du weisst, die Piste ist frei. Und das ist schon cool.

00:18:05: Das ist eine grossartige Antwort dafür, dass du angefangen hast mit:

00:18:08: «Ich kann es dir nicht sagen». Extrem eindrücklich!

00:18:13: Ich bin auch in der Ausbildung eines Skiclubs dabei und bringe meine Sicht ein.

00:18:19: Ich habe das Gefühl es ist schwierig zu sagen, wie wir das erleben.

00:18:24: Ich glaube jeder und jede von uns erlebt es auch wieder anders.

00:18:26: Was ich dir sagen kann – und was die Leute jeweils spannend finden ist,

00:18:29: dass ich lieber Tage habe, an denen nicht schönes Wetter ist, weil dann weniger Leute

00:18:34: auf der Piste sind und mir ist es ziemlich egal, ob es Nebel hat oder nicht.

00:18:37: Das kann ich mir vorstellen!

00:18:38: Und ich habe dann meine freie Piste, das finde ich recht cool.

00:18:41: Dann bist du wieder frei. Und nachher kannst du richtig loslegen!

00:18:44: Eine Frage, die ich noch habe: Wie wichtig sind Sinnesbehinderungen

00:18:51: allgemein in eurem Alltag? Haben die einen speziellen Platz?

00:18:55: Oder ist es einfach etwas unter ganz vielem, das ihr macht?

00:19:03: Grundsätzlich haben wir das Thema Diversity gross auf unsere Agenda gesetzt.

00:19:09: Wir haben immer grosse Themen, die wir regelmässig behandeln:

00:19:12: Digitalisierung, Klimawandel und Diversity gehören dazu. Daher ist es ein Thema,

00:19:19: das wir regelmässig bearbeiten wollen und deshalb haben wir uns auch entschieden,

00:19:23: anlässlich dem Ausbau des Gebärdensprachprogramms der SRG, diese Sendung dazu zu machen.

00:19:30: Wenn ihr aber über Sinnesbehinderungen spricht, dann vermute ich,

00:19:34: trefft ihr zwei Probleme an: Erstens, ich sage mal die «PR-Falle».

00:19:39: Es gibt ja immer wieder Technologien, die uns extrem helfen und

00:19:42: für uns sehr wichtig sind. Könnt ihr darüber überhaupt berichten

00:19:45: oder ist das unmöglich, weil dann die Unternehmen eine riesige PR-Show auffahren?

00:19:49: Ich erinnere mich noch, als wir «Blindflug» gedreht haben. Da waren wir

00:19:52: in Jerusalem und sind dann zu einem Unternehmen gegangen, das eine Brille

00:19:57: für Menschen gemacht hat, die nicht gut sehen. Und die Brille

00:20:00: hat dann die Währung gezeigt, ob es Euros sind, Schweizer Franken und so weiter.

00:20:04: Es war unmöglich, das im Fernsehen zu zeigen, weil es eine richtige PR-Show war.

00:20:10: Das ist ein Problem, das wir – unabhängig vom Thema – immer wieder haben.

00:20:17: Gerade wenn wir Technologiesendungen machen, zum Beispiel über Virtual Reality.

00:20:23: Da gibt es auch Brillen, Programme oder auch Start-Ups die vorkommen.

00:20:29: Das ist einfach eine Sache der Vorbesprechung. Meine Erfahrung ist,

00:20:35: dass die Firmen relativ häufig wissen, dass sie jetzt keine PR-Show abziehen können,

00:20:43: weil wir es dann nicht senden können. Deshalb sollte man im Vorgespräch

00:20:48: schon ausloten, was möglich ist und was nicht.

00:20:52: Wie geht ihr denn mit der Forschung um? Es gibt ja beispielsweise

00:20:55: Schweizer Zeitungen, die jede Woche mal schreiben: «Jetzt können Blinde wieder sehen»

00:21:00: oder «Gehörlose Menschen hören wieder». Wie geht ihr damit um?

00:21:04: Ihr seid ja eine Wissenschaftssendung, ihr wollt ja über die Forschung berichten

00:21:08: aber ihr müsst irgendwie wissen, ob die Forschung auch etwas taugt, oder?

00:21:11: Das ist natürlich immer ein Abwägen und hat viel mit der Erfahrung

00:21:15: des ganzen Teams zu tun. Wenn jetzt irgendeine Studie rauskommt,

00:21:22: dann müssen wir zuerst mal schauen, wie seriös die Studie ist.

00:21:28: Oder wie sehr das, was in der Studie steht, schon Realität ist.

00:21:36: Das Wichtigste für uns ist, dass wir nachher nicht mit plakativen Schlagzeilen kommen.

00:21:42: Gerade wenn man sich in den Zeitungen mal die Schlagzeilen anschaut

00:21:47: und sich mal etwas genauer mit der Studie befasst– dann ist die Schlagzeile

00:21:50: oft völlig übertrieben. Uns ist es sehr wichtig, genau das nicht zu tun.

00:21:56: Das braucht sicher auch viel Zeit, das zu untersuchen. Wir sind schon fast am Schluss und

00:22:01: jetzt ist es mir fast schon ein bisschen peinlich. Aber haben wir alles

00:22:04: richtig gesagt punkto gehörlos oder nicht gut hören? Weisst du das?

00:22:09: Ich hoffe es. Ich bin sehr darauf bedacht und das ist etwas, das mir immer sehr wichtig ist.

00:22:16: Ihr habt ja in der letzten Woche sicher auch viel darüber nachgedacht, wie man

00:22:21: mit gehörlosen Zuschauerinnen und Zuschauern umgeht. Hat das auch eine

00:22:27: Veränderung ausgelöst, bei der du in Zukunft in den Redaktionssitzungen

00:22:31: auch mal denkst: «Ah das funktioniert und das funktioniert nicht»?

00:22:36: Unabhängig von dieser Sendung ist das etwas, das ich an «Einstein» sehr liebe:

00:22:41: Bei jedem Thema und bei jeder Sendung, die wir machen, findet eine Sensibilisierung statt.

00:22:46: Dazu vielleicht noch eine kleine Anekdote: Wir haben im Dezember

00:22:53: vor einem Jahr, kurz vor Weihnachten, eine Sendung über das Thema Corona

00:22:57: und den Umgang damit gemacht. In dieser Sendung haben wir auch thematisiert,

00:23:03: wie es für hörbehinderte Menschen ist, wenn sie Leuten mit einer Maske begegnen

00:23:08: und nicht mehr von den Lippen lesen können. Wir haben ein Interview

00:23:12: mit der Präsidentin vom Schweizerischen Gehörlosenbund, Tatjana Binggeli,

00:23:16: und das war letztlich auch ein Grund, weshalb diese Sendung jetzt entstanden ist:

00:23:21: Weil die Frau für uns so eindrücklich war. Sie hat damals schon über ihre Anliegen gesprochen

00:23:28: und in dieser Sendung haben wir sie auch wieder in Bundesbern getroffen. Ich glaube,

00:23:37: so eine Sendung führt automatisch zu einer Sensibilisierung und ich hoffe,

00:23:41: das passiert nicht nur bei uns auf der Redaktion, sondern auch im Publikum.

00:23:44: Dann wäre das Ziel erreicht.

00:23:47: Und wie ist es denn mit anderen Behinderungen? Schaut ihr in Zukunft auch,

00:23:52: dass die Sendung so erzählt wird, dass man sie versteht, wenn man nicht gut sieht?

00:23:57: Sind solche Überlegungen auch für euch ein Thema?

00:24:00: Für uns als Redaktion eher weniger. Für uns geht es vor allem

00:24:04: auf der inhaltlichen Ebene darum, was wir machen. Was nachher

00:24:10: die Übersetzung angeht – ich sage einfach mal Übersetzung – liegt das

00:24:15: nicht mehr in unserer Hand. Grundsätzlich hast du aber recht.

00:24:19: Man sollte sich eigentlich immer die Frage stellen: Ist die Sendung so,

00:24:23: wie wir sie machen, für alle Menschen gut empfang- und konsumierbar?

00:24:31: Zum Schluss will ich noch etwas wissen: Wie würdest du dich selber beschreiben?

00:24:38: Sportlich und extrem neugierig.

00:24:41: Ich bin eben gestern mit zwei Kollegen essen gegangen. Der eine sieht gar nichts,

00:24:46: der andere kann sehen. Dann haben sie mich gefragt: «Was machst du denn morgen?»

00:24:51: Und dann habe ich gesagt: «Ich treffe Tobias Müller.» Nachher hat einer gesagt:

00:24:57: «Das ist jetzt wirklich bei SRF einer der schönsten Moderatoren.»

00:25:02: Und er hat auch gesagt: «Nicht übertrieben schön, sondern so natürlich schön.»

00:25:08: Und der andere, der gar nichts sieht, meinte dann: «Ja, das habe ich auch schon gehört.»

00:25:13: Ist dir das bewusst? Das ist ja auch eine Art Stereotyp, die dir zugeschrieben wird.

00:25:22: Ja, stimmt. Aber das ist jetzt ein Stereotyp, den ich gerne nehme.

00:25:27: Aber bist du dir dessen bewusst oder ist es das erste Mal, dass du das hörst?

00:25:30: Auch wenn ich das selber nicht unbedingt so finde,

00:25:35: ich habe es auch schon gehört.

00:25:41: Ich wollte es einfach mal ansprechen. Weil bis zu diesem Zeitpunkt

00:25:45: habe ich daran gar nicht gedacht. Ich glaube, es ist darum spannend,

00:25:50: weil es auch etwas verändern kann, wie man auf jemanden zugeht.

00:25:58: Ja, es ist ein spannender Punkt. Wenn es jetzt einfach nur noch heisst

00:26:05: «der schöne ‹Einstein›-Moderator», dann würde es mich nerven.

00:26:10: Grundsätzlich geht es nicht darum, ob ich schön bin oder nicht.

00:26:15: Es geht darum, ob ich ein kompetenter Moderator bin oder nicht.

00:26:20: Das ist für mich ein viel wichtigeres Attribut als «schön».

00:26:25: Aber, ich muss dazu auch sagen: Fernsehen ist zu einem grossen Teil nonverbal,

00:26:32: es geht einfach ums Aussehen.

00:26:36: Einen Vorteil darf man ja noch haben im Leben!

00:26:40: Ja, vielleicht.

00:26:42: Und du wirkst auf mich auch kompetent, obwohl ich dich ja nicht sehe.

00:26:45: Darüber ich aber sehr froh! Das ist ein viel grösseres Kompliment als das Schönsein!

00:26:50: Danke, dass du hier warst und danke für die Auskunft!

00:26:53: Danke dir, es war sehr spannend!

00:26:55: Ich glaube, wir nehmen jetzt trotzdem den Spruch: «Wissen ist Macht!»

00:26:58: Wir könnten den auch erweitern mit: «Nichts wissen macht auch nichts.»

00:27:02: Ich glaube, bei gewissen Sachen ist das so. Aber dass «Einstein» jetzt

00:27:05: auch Leute geniessen können, die nicht gut hören, ist definitiv ein Fortschritt.

00:27:09: Danke dir, dass du «Stereotyp» geschaut oder gehört hast und bis zum nächsten Mal!

00:27:14: Du hast dir gerade «Stereotyp» reingezogen – den Podcast von SRG Insider

00:27:19: mit Unterstützung der Stiftung «Denk an mich». Noch mehr Denkmuster

00:27:23: in den Medien packen wir überall dort an, wo es Podcasts gibt und auf srginsider.ch.

Neuer Kommentar

Dein Name oder Pseudonym (wird öffentlich angezeigt)
Mindestens 10 Zeichen
Durch das Abschicken des Formulars stimmst du zu, dass der Wert unter "Name oder Pseudonym" gespeichert wird und öffentlich angezeigt werden kann. Wir speichern keine IP-Adressen oder andere personenbezogene Daten. Die Nutzung deines echten Namens ist freiwillig.